F. Mermier u.a. (Hrsg.): Leaders et partisans au Liban

Cover
Titel
Leaders et partisans au Liban.


Herausgeber
Mermier, Franck; Mervin, Sabrina
Erschienen
Anzahl Seiten
495 S.
Preis
€ 32,45
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Thuselt, Institut für Politische Wissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Es sei gleich zu Anfang vorausgeschickt, dass der hier zu besprechende Band in der Tat in jede gut bestückte Fachbibliothek gehört: Schon allein, weil er eine Lücke schließt. Er liefert Stoff zu einem Thema, welches die politikwissenschaftliche Nahostforschung in den nächsten Jahren noch beschäftigen sollte. Einmal ganz abgesehen davon, dass bislang noch kein einziger Sammelband mit Analysen der wichtigsten politischen Akteure des notorisch krisengeschüttelten Libanon vorlag, darf somit also auch eine breiterer Nutzen angenommen werden, was wohl auch im Sinne des herausgebenden Ifpo-Instituts in Beirut war. Dessen vermehrte Beschäftigung mit politischen Parteien erscheint in der Tat als dringend notwendig. Eine Betrachtung derselben erscheint auch als hochwillkommene Abwechslung, mindestens aber Ergänzung, vom, bzw. zur beinahe ausschließlichen Analyse neo-patrimonialer Patronagetechniken auf der Grundlage rein polit-ökonomischer Orientierung. Angesichts des Aufbrechens der neo-patrimonialen Staatsklassenregime Ägyptens, Libyens und Tunesiens könnte eine solche Forschungsleistung sogar regional interessant werden. Eventuell sind aus dieser Richtung sogar überaus belebende Effekte für die Nahostforschung zu erwarten.

Positiv hervorzuheben ist ferner, dass, wiewohl eine Fülle verschiedener Beiträge und Ansätze vorliegt, kein unzusammenhängender Eindruck des Bandes aufkommt. Dies liegt zweifellos auch in der starken Tendenz aller Artikel begründet, Politik im Libanon eher kleinräumig zu betrachten, oftmals auch aus anthropologischer Perspektive. Dies macht sich sogar bei jenen Aufsätzen bemerkbar, die dezidiert sozio-ökonomische Analysen bemühen. In dieser tendenziellen, aber variantenreichen Nähe steckt ein hohes Maß an Potential, das den Band überaus empfehlenswert macht.

Im ersten Abschnitt des Bandes stehen Figuren der nationalen politischen Landschaft des Libanon im Fokus. Der Reihe nach werden Michel ʿAoun, Samir Jaʿjaʿ, Rafiq al-Hariri, Walid Jumblatt, Najib Miqati und die SSNP vorgestellt. Es folgen Betrachtungen politischer Sozialisationsprozesse, religiöser Autorität und schließlich der lokalen Ebene. Diese Gliederung liegt sicher auf der Hand. Gelungen sind auch die überaus meisten Beiträge.

Allerdings muss kritisch eingewandt werden, dass die Behandlung des wissenschaftlich noch kaum beleuchtete Phänomen ʿAoun teils noch erhebliche Mängel aufzuweisen scheint. Möglicherweise liegt dies an fehlender Forschungsliteratur. Dies hätte allerdings nicht unbedingt mit überschäumender Freude am Psychologisieren kompensiert werden müssen. So könnte man etwa gegen Philippe Abiracheds Beitrag anwenden, dass die politische Komponente des ʿAounschen Charismas bei ihm zu weit zurücktritt: Charisma und politisches Projekt sind nach unserem Dafürhalten enger verbunden als dies im Text ab und an der Fall zu sein scheint. Seine These, Charisma suche sich, um nicht zu veralltäglichen, ein neues Feld, erfinde sich also permanent neu (S. 47f.), wurde nach unseren Erfahrungen von allein Parteigängern ʿAoun vehement abgelehnt: Sie sehen Kontinuität, keine Neuerfindung. Hier hätte man noch stärker zwischen dem Charismatiker selbst und der politischen Identität seiner Anhänger unterscheiden müssen.

Zu Leforts Beitrag muss leider angemerkt werden, dass sich nicht alle seine Interviewpartner ernstgenommen fühlten, wie der Rezensent aus eigener Begegnung mit denselben im Libanon erfahren musste. Insbesondere seine zu weit ins Psychologisierende und Exotisierende abgleitende Darstellung des ʿAounschen Charismas stellt eher eine Überinterpretation dar. Vielleicht sollte generell in der Feldforschung das Augenmerk stärker auf die Narrative der Gesprächspartner gerichtet werden. Die dichotomische Gegenüberstellung ʿAoun – Jaʿjaʿ vermag noch zu überzeugen, die zu weit ausgreifende Einbeziehung Bashir al-Jumayyils hätte kritischer hinterfragt werden müssen. Ein weiteres Manko des Artikels liegt jedoch in seiner noch überbetonten Wahrnehmung einer „wahhabitischen Bedrohung“: Lynda Elias ist im extrem amorphen Gebilde der FPM eher eine Randerscheinung. Insgesamt gelingt es Lefort, so ist zu befürchten, leider nicht, den Hintergrund der FPM als einer bestimmten politischen Selbstverortung christliche-libanesischer Identität zu erfassen: Er fokussiert die Partei zu sehr auf das konfessionelle Momentum und negiert damit einen nicht unbeträchtlichen Teil der aus dem Konfessionsbezug heraus erwachsenden und über sie hinausgehenden Programmatik.

Unter dieser Schwäche leidet in der Folge auch der Gesamteindruck des zweiten Teils des Bandes, der sich mit Sozialisationsprozessen befasst. Dies ist besonders schade für die Beträge Mazaeffs und Le Thomas’. Denn beide Autorinnen zeigen über die Erforschung von Sozialisationsinstanzen politischer Parteien (Lebanese Forces und Hizb-Allah) auf, dass diese über ein sie legitimierendes Umfeld verfügen. Insbesondere Mazaeff weist aber auch darauf hin, dass politische Diskurse der so ubiquitär mit Parteisymbolen sozialisierten jugendlichen Anhänger der Forces diese auch bewusst reflektierten. Gerade diese beiden Beiträge unterstreichen, dass Politik im Nahen Osten aus mehr besteht, als nur aus Patronage. Le Thomas verfasst sogar gleich zwei Beiträge: Beide sind außergewöhnlich gut gelungen. Sie befassen sich auf solider Materialbasis mit der Reproduktion eines Milieus, dessen Symbole Ausdruck und Bekräftigung der von der Partei entlang einer politisierten Theologie interpretierten Gruppenidentität sind, die sich im allumfassenden Begriff des „Widerstandes“ ausdrückt, in welchem Lebensstil, Politik (in nahezu allen Politikfeldern) und eine spezifische Auffassung von Religiosität unauflöslich zusammengefasst werden.

Der vierte Autor dieses Abschnitts, Arkadiusz Płonka, trägt zwar mit einer kulturwissenschaftlich-linguistische Analyse von Folkloreliedgut und -texten eine echte Rarität bei, leidet aber an einer chaotischen Textkonzeption. Seine Analyse stützt sich im Wesentlichen auf einen falschen Nekrolog auf Samir Jaʿjaʿ, der eine erstaunliche Gewaltförmigkeit durch „symbolisches Töten“ in künstlerischer Form aufzeigt. Der Autor hätte sich aber sicher einen Gefallen damit getan, nicht den halben Text in die Fußnoten zu verlagern, sondern weiteres Material in strukturierten Form zu präsentieren. Dabei lassen gerade diese Anmerkungen erahnen, dass noch wesentlich mehr interessante Beobachtungen hätten einfließen können: Am Ende steht jedoch nur eine relativ kurz angebundene Analyse eines einzigen Textes, die in einem Wust an Anmerkungen ein wenig zu ertrinken droht.

Alle weiteren Autoren liefern teils hervorragende Darstellungen. Insbesondere die durch Feldforschung unterfütterten Beträge Aubin-Boltanskis und Rivoals zu Samir Jaʿjaʿ und Walid Jumblatt scheinen unbedingt hervorhebenswert. Aber auch die polit-ökonomische Analyse Baumanns weiß zu überzeugen. Auch und vor allem, weil der Autor traditionelle Analysemechanismen neo-patrimonialer Patron-Klient-Beziehungen durch den Begriff des „sozialen Kapitals“ erweitert und somit aus eingefahrenen Schemata herausführt.

Kontrastierend hierzu versucht Gervais eine Analyse des Wandels der politischen Rolle Rafiq al-Hariris. Diese einer detaillierteren Betrachtung zu unterziehen, lohnt allerdings. Gervais stellt fest, dass angesichts regionaler Konfliktstrukturen und der steigenden Bedeutung der schiitischen Parteien Hizb-Allah und Harakat ʿAmal sich das Selbstbild Hariris vom „nationalen Führer“ zum „Führer der Sunniten“ wandelte. Daraus entwickelte sich auch eine prekäre Situation für ihn: Je mehr er die eigene Gemeinschaft mobilisieren musste, desto mehr war er gezwungen Gruppen zu assoziieren, die zwar zahlenmäßig nicht besonders groß sind – was Gervais ruhig etwas klarer hätte herausstellen können – dafür aber bestimmte Teile der libanesischen Sunnah repräsentieren. Damit stärkte er möglicherweise ungewollt Teile der alten sunnitischen Oberschicht.

Dewaillys ansonsten lesenswerte Betrachtung der Rolle des ehemaligen Premierminister Najib Miqati in seiner Hochburg Tripoli hätte etwas mehr soziologisches Instrumentarium vielleicht gut getan. Die Analyse erscheint uns zwar sehr interessant, aber es fehlt das Einbeziehen der im Falle Tripolis natürlich besonders interessanten Vertreter politischer Organisationen außerhalb des Notabeln-Kontextes in detaillierterer Form.

Erwähnenswert ist auch der Ansatz Franck Mermiers, einen bereits toten politischen Führer als omnipräsente Quelle der Legitimation von Macht am Beispiel Antun Saʿadehs einzubeziehen. Vermittels des Konzepts der „politischen Religion“ unterzieht er die totalitären Wesenszüge der SSNP einer neuen Betrachtung und weist dabei auch auf die heikle Frage der Adaptierung faschistischer Symbole und – in diesem Fall besonders frappierend – auch Inhalte, hin.

Im Abschnitt zu religiösen Autoritäten als politische Akteure ist besonders Sabrina Mermiers Versuch, die Konstruktion charismatischer Autorität schiitischer Geistlicher nachzuzeichnen, hervorzuheben. Der Schwerpunkt liegt dabei klar auf der Annahme der Moderne, der Transformation der eigenen Gemeinschaft in die der „Entrechteten“ und den „Widerstand“. Ohne in sonst gerne genommene Polemiken zu verfallen, stellt sie nach dem „Verschwinden“ Sadrs die beiden fortan dominierenden Theologen Muhammad Husayn Fadl-Allah und Muhammad Mahdi Shams al-Din als zwei teilweise gegensätzliche Beispiele modernen schiitische Charismas dar: Shams al-Din als Kritiker des Khomeini-Staates und eher intellektuellen Mann der Institutionen, Fadlallah als überaus praktisch veranlagten Vertreter eines nach eigenen Angaben „dynamischen Islam“, der karitative Initiative, politisches Engagement und die „gläubige Gesellschaft“ in jederlei Hinsicht miteinander verbindet. Hasan Nasr-Allah vergleicht sie zu Recht mit dem Iraker Muqtada Sadr: Theologisch wenig gebildet und mit der militant-kämpferischen Rhetorik des Parteiführers, dessen Projekt wesentlich immanenter daherkommt als das aller Vorgänger – das Ziel ist der praktisch greifbare Sieg der „Ashraf al-nas“. Es muss der Autorin hoch angerechnet werden, dass sie der Versuchung widersteht, in Fadl-Allah, nach Art der deutschen Presse, nicht primär einen Theologen, sondern den „Spiritus Rector“ der „Hizb-Allah“ zu sehen. Auch ohne dass sein direktes Engagement klar zu sein scheint, fungierte er mindestens indirekt auch als eben dieser, es wäre jedoch ein Fehler, ihn auf diese Rolle zu reduzieren. Ähnlich ist auch die Arbeit zum ehemaligen maronitischen Patriarchen Nasr-Allah Boutros Sfeir stets bemüht, religiöses und politisches Charisma gleichermaßen zu bedenken und gegeneinander abzuwägen. Dem Urteil, dass Tagespolitik nicht als Domäne des Klerus gesehen wird, kann zugestimmt werden. Dies impliziert, wie die Autorin richtig feststellt, allerdings keinen Verzicht auf politische Äußerungen im weiteren Rahmen und das Ausfüllen eines immer wieder in Krisenzeiten auftretenden Vakuums, gerade im Falle Sfeirs.

Auch die mit der lokalen Ebene befassten Studien liefern durch ihre Rückbindung großer politischer Verlaufslinien an örtliche Phänomene überaus lesenswerte Analysen, auch wenn schlussendlich in allen Fällen sehr periphere Untersuchungseinheiten gewählt wurden. Die Betrachtung Baʿalbeks und Zahlehs, des ʿAleys und des äußersten Norden der Provinz Jabal Lubnan zeigen dabei sowohl die Persistenz genealogisch fundierter Politikausübung im Libanon, als auch deren Grenzen und Veränderungen. So wird rasch klar, wie sehr die rechtliche wie politische Inklusion einer lokalen Einheit zwar ein hohes Maß an faktischer (nicht unbedingt rechtlicher) Autonomie zulässt, jedoch lokale Machtausübung zunehmend abhängig davon macht, auf nationaler Ebene mitzuspielen. Wirft man jedoch einen Blick ins Innere einiger der dabei aufgestellten politischen Apparate, so man etwa die recht rudimentären organisatorischen Basen Skaffs oder ʿArslans so nennen möchte, offenbaren sich bestenfalls neo-patrimoniale Muster, die im Zuge dieses Transformationsprozesses aus patrimonialen heraus entstanden sind. Oder um es mit Ichtis Beschreibung der ʿArslan-Partei auszudrücken, sind sie eine „ästhetische Einrahmung, die die soziale Realität berührt, aber in keinem Fall aus der fraglichen Gesellschaft hervorgeht“ (S. 476).

Zusammenfassend muss dem Sammelband ein überwiegend hohes Niveau bescheinigt werden. Die Beiträge sind durch Feldforschung in begrenzten Teilgebieten fundiert und lassen dadurch auch nicht den Eindruck entstehen, der Band sei mehr eine Collage als ein kohärentes Werk. Ein sonst bei Konferenzbänden oftmals als störend empfundener Bruch innerhalb eines Bandes unterbleibt daher. Wie eingangs bereits ausgeführt, erscheint auch die Thematik als zukunftsweisend. Dem Buch ist nicht zuletzt deshalb eine zahlreiche Leserschaft zu wünschen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Land
Sprache der Rezension